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Architekturtheorie


Thorsten Reinicke
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Reaktion

Der Verlust der Form ist schmerzhaft. Denn unabhängig von der Funktion, von der Nutzung, besteht ein Bedarf nach einer bleibenden, dauerhaften Form. Wir Menschen brauchen den wiedererkennbaren und wohlgestalteten Ort.

Beispiel Denkmalschutz und »Ortsbild«

Auf der Suche nach der verlorenen Form entstanden im zwanzigsten Jahrhundert eine Vielzahl kleinerer ›Stile‹, die sich tatsächlich in erster Linie mit der Form auseinandersetzen:

Die Postmoderne wendet sich gegen die rechtwinklige und als eintönig empfundene Ordnung, indem sie frühere Baustile ironisch kombiniert. Das verleiht ihr zwar einen gewissen Charme, der jedoch nicht von Dauer ist und nachgemacht und künstlich wirkt.

Der Traditionalismus oder Historismus versucht, alte Formen, alte Gedanken und Stile, wiederauferstehen zu lassen, sie zu erhalten und fortzuführen. Allerdings steht dies kaum noch im Einklang mit unserer Erkenntnis und den Möglichkeiten unserer Bautechnik. Wir spüren, daß dies nicht stimmig ist, daß hier mehr und anderes machbar ist.

Im New Urbanism wird ein historischer Stil nicht nur für einzelne Bauten, sondern zugleich für die Stadtplanung und das gesellschaftliche Verhalten angewandt. Aus einer alten und eigentlich veralteten Vorstellungswelt heraus wird festgelegt, wie eine Stadt im Ganzen auszusehen und zu funktionieren hat, unabhängig davon, ob dies den tatsächlichen Erfordernissen entspricht oder nicht.

Der Dekonstruktivismus reagiert – je nach Betrachtung – mit einer bewußten Verleugnung oder mit einer exzessiven Übersteigerung der Form, und stapelt Bauelemente scheinbar wahl- und ›form‹-los übereinander.

Die Neue Einfachheit bezieht sich wieder stärker auf die Gedanken der klassischen Moderne mit der Forderung nach mehr Ordnung. Hier beginnt der Kreislauf von vorn.

Doch unabhängig vom äußeren Stil bleibt das eigentliche Problem:

Die Räume vor und hinter der Fassade werden mit einer definierten Funktion belegt und aus ihr heraus entwickelt. Es wirkt immer noch der Funktionalismus.

Die ›neuen‹ Stile beschäftigen sich lediglich mit der Hülle, mit der äußeren Erscheinung. Inhalt und Form gehen nicht zusammen.

Die äußere und die innere Form bilden keine Einheit.

Deswegen wirken viele Bauten auf Dauer nichtssagend und gesichtslos – egal welcher Stil verwendet wurde und auch, wenn ein Neubau anfänglich Aufsehen erregen mag. Die Unstimmigkeit ist instinktiv zu spüren. Es fehlt die durchgängige Form.

Es fehlt die Ganzheit.

Hinzu kommen die aus den funktionalen Festlegungen resultierenden Einschränkungen.

Die Reaktion der Öffentlichkeit ist nicht selten heftig: »Die Architektur hätte versagt«, so ist es zu hören. Von der »Mitbestimmung bei der Planung« ist nun die Rede, und vom »Erhalt des Alten«, einem weit über das Maß praktizierten Denkmalschutz. Ein Stehenbleiben oder Zurückgehen scheint Vielen lieber, als eine nicht für gut befundene Weiterentwicklung.

Die Mehrzahl des Gebauten mutierte derweil zu einem »undefiniert diffusen Heimatstil« – hin- und hergerissen zwischen neuen Ideen und neuen technischen Anforderungen, und einer Vorstellungswelt, die sich eher an der Vergangenheit orientiert. Es geht um »regional typische Bauweisen« und um die »Anpassung an die vorhandene Umgebung«. Allerdings kann kaum jemand erklären, was hierunter denn genau zu verstehen ist.

Gleichwohl gilt auch hier für die Nutzung der Funktionalismus. Die für eine Region ehemals typischen Bauweisen, die einmal ihre innere Stimmigkeit hatten, werden mit wesensfremden Funktionen belegt, für die sie ursprünglich nie vorgesehen waren. Sie wirken deswegen eigenartig verzerrt und lächerlich.

Durch die Überbetonung der Funktion, nämlich als Urheber der Form, verleugnet die Architektur im Grunde sich selbst. Und genau dies wird letztlich vom Publikum bemängelt, auch wenn es sich dessen wohl nicht bewußt ist.

 

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Beispiel Denkmalschutz und Ortsbild

In den letzten Jahrzehnten wurden der Denkmalschutz, der Erhalt alter Bausubstanz und der »Erhalt des Ortsbildes« zunehmend mit Bedeutung belegt. Alte Stadtkerne werden ›liebevoll‹ restauriert, eigentlich bau- und abrissfällige Gebäude wiederhergerichtet. Alte Fassaden bleiben erhalten und dahinter wird neu gebaut. Teils entstehen sogar vergangene Bauten an Hand alter Pläne neu.

In Deutschland gibt es eine Reihe an diesbezüglichen Vorschriften: »Erhaltensverordnung«, »Verordnung zur Gestaltung von ...« oder »Verordnung zum Schutze des Milieubereiches ...«. Auffällig ist, das sogar hier der Funktionalismus wirkt. Ein abgegrenzter Bereich erhält die Funktion eines ›Milieus‹. Einige hundert Meter weiter gäbe es dann kein ›Milieu‹ mehr – zumindest nicht in den Augen der Behörden.

Aufwändiger Erhalt einer alten Fassade, Vorderseite Aufwändiger Erhalt einer alten Fassade, Rückseite Aufwändiger Erhalt eines Fassadenensembles, Außen Aufwändiger Erhalt eines Fassadenensembles, Innenhof
Aufwändiger Erhalt von alten Fassaden
Fotos: Thorsten Reinicke, 2013, 2014

Warum entsteht der Wunsch nach dem Erhalt oder Wiederaufbau des Alten? Häufig ist der Aufwand hierfür weit höher, als für einen Neubau. Eigentlich macht so ein Vorgehen keinen Sinn. Als Erklärung bleibt, daß im Alten etwas gefunden wird, was die heutige Zeit nicht bietet.

Beim Denkmalschutz geht es um den Erhalt alter Schönheit oder um die Erinnerung an die Geschichte. Beim Ortsbild soll das sogenannt »Ortsbildsprägende« und das »Ortstypische« erhalten bleiben. Die »beabsichtigte Gestaltung des Ortsbildes« solle »nicht gestört werden«.

Letztlich steht der Erhalt von alten Formen im Vordergrund, fast unabhängig davon, ob hinsichtlich einer Nutzung ein Bedarf besteht, oder ob die alten Räume noch intakt sind. Die alten Formen sollen um jeden Preis erhalten werden.

Alte Formen sind vertraut. Sie werden wiedererkannt. Viele fühlen sich deswegen in ihnen wohl und geborgen. Neuer Architektur wird die Vermittlung solcher Gefühle nicht zugetraut. Und tatsächlich führt ein Übermaß an Funktion ja zu einem Verlust der Form, wie ich schon feststellte.

So stellen Denkmalschutz und der Erhalt des Ortsbildes auch eine Reaktion auf den Verlust der Form dar. Wenn neue Architektur keine schönen und dauerhaften Formen mehr hervorbringen könne, dann sollen zumindest die alten gewohnten Formen erhalten bleiben.

Verkannt wird, daß all diese Denkmäler und Ortsbilder irgendwann einmal »geworden« sind.

Die ›Denkmäler‹ entstanden im Geiste und mit den Mitteln ihrer Zeit. Heute haben wir andere Baustoffe und Techniken, andere Anforderungen an die gebaute Umwelt. Unsere Erkenntnis über die Welt ist eine andere. Den Geist, den die damaligen Baumeister und Handwerker hatten, gibt es heute nicht mehr. So wird trotz größter Sorgfalt die alte Schönheit nicht wieder erreicht. Die sanierten Gebäude wirken zumeist leblos, museal für die Ewigkeit eingefroren.

Auch die ›Ortsbilder‹ waren weniger festgelegt. Sie konnten sich relativ frei entwickeln. Die griechische Säule z.B. wanderte um die Welt, und kein Mensch hat sich je drum gekümmert, ob sie denn nun »ortstypisch« ist oder nicht. Ebenso sind in der Gotik – wie eigentlich bei allen Stilen – die Ideen quer durch Europa oder weiter gewandert, und wurden überall gebaut. Einige hundert Jahre später wird dann ein Schnitt gemacht und behauptet, dies alles sei nun jeweils »ortstypisch« und dieses »Ortsbild« müsse nun erhalten bleiben.

Parthenon, Athen Reichstag, Berlin Parlament, Wien Nationalversammlung, Paris Palast der Nation, Brüssel Versammlung der Republik, Lissabon Abgeordnetenhaus, Madrid Versammlung, Zagreb Kapitol, Washington Nationales Monument von Schottland, Edinburgh Parlament, Athen
Die griechische Säule
Fotos: Wikipedia, CC BY-SA 3.0 Wladyslaw Sojka, Jürgen Matern, Peter Wuttke, Open Work, Benjah, Joaomartinho63, Luis García, Suradnik13, Martin Falbisoner, Colin, Thomas Wolf

Eine weitere Entwicklung, also ein weiteres »Werden«, wird durch ein Übermaß an Denkmalschutz und vorgegebenen Ortsbildern, also durch ein übermäßiges Festhalten am Alten, be- oder gar verhindert. Statt unsere kreative Kraft auf das Heute und nach Vorn zu richten, blicken wir in die Vergangenheit und hoffen, dort etwas zu finden, was wir scheinbar verloren hätten.

Wir können die Zeit aber weder zurückdrehen noch stillstehen lassen. Wir haben nur die Möglichkeit, mit heutigen Mitteln neue Schönheit, neue ›Denkmäler‹ und neue ›Ortsbilder‹ zu schaffen – egal, welche Schwächen die heutige Architektur auch haben mag.

Erst wenn der Rückgriff auf und der Ersatz durch das Alte entfallen, werden wir in der Lage sein, neue echte Schönheit zu schaffen.

Historisch wirklich bedeutend sind weltweit vergleichsweise nur wenige Gebäude. Für die würde sich ein erhöhter finanzieller Auswand – möglicherweise seitens der Weltgemeinschaft – zweifelsfrei lohnen. Ich denke hier an Bauten von der Klasse wie beispielsweise der ägyptischen Pyramiden, des griechischen Parthenon, der türkischen Hagia Sofia, des deutschen Kölner Doms und andere mehr. Stattdessen wird der hiesige Denkmalschutz sogar auf drittklassige Bauten ausgeweitet, während die wirklich großartigen Bauten dahinvegetieren und zerfallen.

Denkmalschutz und Ortsbild stellen den Wunsch nach bleibender Schönheit und dauerhaften, wiedererkennbaren Formen dar. Sie sind letztlich aber nur ein Ersatz, und keine echten Mittel, um ihm gerecht zu werden.

Anmerkung:
Ich spreche mich nicht generell gegen den Erhalt des Alten aus. Aber es muß Sinn machen. Wenn die alte Bausubstanz noch soweit intakt und damit brauchbar ist, oder sie ggfls. mit vertretbarem Aufwand saniert, ergänzt und/oder umgebaut werden kann, spricht nichts dagegen, sie weiter zu nutzen. Fraglich und behindernd wird es aber, wenn der Aufwand und die entsprechende geistige Haltung dahinter – wie oben beschrieben – übermäßig werden.

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