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Urhütte + Refugium
»Domus tutissimum cuique refugium atque receptaculum.«
»Das eigene Haus ist für jeden der sicherste Zufluchtsort.«
Dieser Satz stammt aus der Corpus iuris civilis
, eine antike-römische Gesetzesammlung, welche bis ins 19. Jahrhundert wichtigste Textgrundlage des in weiten Teilen Europas angewandten Römischen Rechts war. Ihr Inhalt ist in zahlreiche moderne Gesetzeswerke und Rechtsordnungen eingegangen.
Mit diesem Satz wird die Bedeutung des Ortes herausgestellt, an dem wir geschützt sein und uns entfalten können.
Übersicht
↓ Refugium
↓ Die Urhütte
↓ Die Hütte
↓ Tiny House
↓ Das Einfamilienhaus
↓ Das Stadthaus
↓ Städtisches Wohnhaus
↓ Massensiedlung
↓ Informelle Siedlung
↓ Spezielle Refugien
↓ Fazit
Refugium
Der Gedanke, sich eigenständig und selbstbestimmt wettergeschützt einzurichten, ist ein Ur-Wunsch des Menschen. Er ist zeitlos und universell, und gilt für unterschiedlichste Situationen und vielfältigste Formen. Es geht hier um ein uraltes und unverzichtbares Grundbedürfnis, um den Zufluchtsort eines Individuums, um unser Refugium.
Die Urhütte
Unsere Vorfahren der Jäger und Sammler wurden mit dem Aufkommen von erzeugenden Wirtschaftsweisen wie Ackerbau und Viehzucht seßhaft. Es wurden feste Behausungen notwendig. Das althochdeutsche wonên
bedeutet bleiben
, zufrieden sein
, oder eben wohnen
.
Die vitruvianische Urhütte stellt die idealisierte Form dieses ursprünglichen Bedürfnisses dar, ein Anfang von Technik und Architektur. Hier eine allegorische Darstellung.
Die Hütte
Eine Hütte ist ein kleines und bautechnisch einfaches Gebäude, eine einfachste Unterkunft in leichter Bauweise, für den kurzfristigen Aufenthalt, die zeitwilige Zuflucht oder Aufbewahrung von Gegenständen. Es gibt sie in unterschiedlichsten Formen als Gartenlaube, Schuppen, Schutzhütte, Almhütte, Forsthütte, Jagdhütte, Saunahütte. Oft dient sie als Rückzugsort zur Erholung oder zum kreativen Schaffen. Die Hütte läßt sich als Vorform zum Einfamilienhaus betrachten.
Tiny House
Das Tiny House ist eine neuere Erscheinung. Es hat die Größe einer Hütte, aber es wird versucht, den Komfort eines Einfamilienhauses unterzubringen.
Das Einfamilienhaus
Ein Einfamilienhaus ist ein Wohnhaus für eine Familie oder eine kleine Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Haushalt führen. Es hat nur eine Nutzungseinheit und steht in der Regel im Eigentum des Nutzers. Das Eigenheim ist die beliebteste und am meisten verbreitete Wohnform.
Das Einfamlienhaus kann viel Fläche verbrauchen und einen erhöhten Aufwand für die Infrastruktur bedeuten. Je größer die Grundstücke sind, je weiter die Häuser auseinanderliegen, je aufwändiger wird die Erschließung durch Straßen, die Zu-, Abwasser- und Stromversorgung u.a..
Andererseits steht das übliche Einfamlienhaus zu allen Seiten frei. Eine natürliche Belichtung von allen Seiten ermöglicht eine größere Planungsvielfalt in den Grundrissen, einschließlich der energetisch günstigen Südausrichtung. Ein Einfamilienhaus kann sich selbst autark mit Energie versorgen. Da das Sonnenlicht dezentral einstrahlt, ist hier die Verteilung von Häusern in der Fläche eher günstig. Weiter findet keine direkte Geräusch- oder Lärmbelästigung zwischen Nachbarn statt, Feuer kann kaum übergreifen.
Im Gegensatz zu eng bebauten Gebieten können auf dem Grundstück eines Einfamilienhaus Obstbäume, Beerensträucher oder Gemüse zur Selbstversorung angepflanzt werden, was anderweitig landwirtschaftliche Flächen einsparen kann. Es kann trotz Bebauung auch Raum für eine ursprüngliche Natur und Habitate für Arten bieten, was den Flächenverbrauch relativiert. Es kommt sicher auch darauf an, inwieweit Einfamilienhäuser zentral versorgt werden oder sich dezentral selbst versorgen können.
Das Einfamilienhaus dürfte Dem entsprechen, was dem Wunsch des Menschen nach einem selbstbestimmten Refugium am nächsten kommt.
Das Einfamilienhaus gibt es in unterschiedlichsten Varianten.
• Freistehende Einfamilienhäuser
• Die Villa
Die Villa war ursprünglich ein vornehmes Haus, auch Ferienhaus, auf dem Lande. Heute ist dieser Begriff eine verallgemeinernde Bezeichnung für anspruchsvolle Einfamilienhäuser.
• Engstehende Einfamilienhäuser
In vielen Dörfer gibt es eng aneinander gebaute, aber immer noch offen stehende Einfamilienhäuser. Sie bieten einerseits gegenseitig Schutz und ein gewisses Maß an Urbanität, lassen andererseits aber individuellen Spielraum.
• Reihenhäuser
Reihenhäuser sind geschlossen gereihte und typengleiche Einfamilienhäuser. Jeweils zwei Außenwände bilden eine gemeinsame innenliegende Wand. Planungs- und Bauaufwand sind geringer.
• Geschlossene Bauweise von Einfamilienhäusern
Besonders in Südeuropa finden sich Konglomerationen von eng aneinander gebauten Nutzungseinheiten, die jede für sich von der Straße aus einzeln zugänglich sind. Sie können einen Innenhof haben und mehrgeschossig sein. Es entsteht einerseits ein kompakter Gesamtkomplex, zugleich hat jede Einheit den Charakter eines Einfamilienhauses.
• Baugeschichte: Römisches Atriumhaus
Eine weitere Variante des Einfamilienhauses ist das Atriumhaus. Es bietet ein hohes Maß an Privatheit und kann zugleich flächensparend dicht gereiht gebaut werden. Das stilisierte Beispiel aus dem alten Rom besitzt nach vorn zur Straße Läden, in der Mitte das Atrium und hinten einen Garten.
• Trypilia
Das Stadthaus
Das zwei- bis dreigeschossige Stadthaus stellt eine gehobene Form des städtischen Wohnens dar. Es ist quasi eine Weiterentwicklung des Einfamilienhauses für den verdichteten Stadtraum mit Verwandtschaft zum Reihenhaus, ohne aber ein solches zu sein. Es war zunächst als repräsentatives Mehrgenerationenhaus für Eltern, Kinder und Großeltern konzipiert. Heute wird es häufig in kleinere Wohneinheiten unterteilt.
Städtisches Wohnhaus
Im Laufe des 19ten Jahrhunderts entwickelte sich der Bedarf nach mehr Wohnraum in Städten, ausgelöst durch Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und vermehrten Zuzug in die Stadt.
Es entstanden vier- bis fünfgeschossige Wohnhäuser, häufig mit um die zehn Wohnungen und oft in Mischgebieten kombiniert mit Handwerks- und Gewerbebetrieben in Hinterhöfen, sowie straßenseitigen Geschäften und Läden.
Das städtische Wohnhaus wurde zunächst in Form einer Blockrandbebauung erstellt. In Hamburg sind das bis heute die beliebtesten und belebtesten Stadtgebiete. Später folgte eine offene Bauweise.
• Blockrandbebauung
Die Blockrandbebauung bezeichnet eine allseitig von Straßen umschlossene Gruppierung von Gebäuden in geschlossener Bauweise um einen gemeinsamen Hof. Die Blöcke sind meist von vier Straßen eingerahmt und die Bebauung ist unabhängig von der Himmelsrichtung zur Straße hin orientiert
• Offene Bebauung
Massensiedlung
Die Entwicklung der wachsenden Städte hält bis heute an. Im 20ten Jahrhundert wurde durch die Entflechtung städtischer Funktionsbereiche die funktionale Stadt angestrebt (Charta von Athen - CIAM), mit einer Trennung von Großwohnsiedlungen, Büros, Einkaufsmöglichkeiten, Gewerbe und Industrie, mit der Folge von zunehmenden Verkehr und der folgenden Erfordernis der autogerechten Stadt.
Es wird versucht, preiswerten und als lebenswert gedachten Wohnraum für möglichst Viele herzustellen und es entstehen Gebäude und Wohnanlagen mit vielen bis sehr vielen Wohnungen. Ich beschränke mich hier exemplarisch auf vier Beispiele aus Hamburg und eines aus Südfrankreich. Weltweit gibt es größere und höhere Gebäude dieser Art, z.B. in China.
Oft wissen die Bewohner nicht mehr, wer alles in dem Gebäude lebt, in welchem sie selbst wohnen. Dies kann zu Anonymität, Vereinsamung, Depression führen. Mit speziellen Sozialprogrammen wird versucht, den negativen Erscheinungen entgegenzuwirken.
• Laubenganghäuser Dulsberg, Hamburg, ab 1927, Fotos 1981
Das Konzept der Gartenstadt war eine Reaktion auf die damaligen schlechten Wohnverhältnisse. Die kleinen über Laubengänge erreichbaren Wohnungen wurden mit Gemeinschafts-Wannenbädern und Gemeinschafts-Waschküchen konzipiert. Es gab Dachterrassen und parkähnliche Gärten, die allen Bewohnern zur Verfügung standen. Die Fotos stammen aus einer Studienarbeit von 1981. Die Bewohner machten damals auf mich einen zufriedenen Eindruck.
• Lenzsiedlung Eimsbüttel, Hamburg, 1970er bis 1980er Jahre, Fotos 2021
Die Siedlung ist als Großwohnsiedlung ein Beispiel für ein Konzept mit sehr hohen Dichten und Geschosszahlen von bis zu 16 Geschossen im Rahmen einer als autogerecht gedachten Stadt. Der Anteil an Erwerbslosen liegt hier weit über dem Durchschnitt. Lange gab es soziale Probleme, welchen die Stadt mit speziellen Förderprogrammen engegenwirkt.
• La Grande-Motte, Südfrankreich, 1960er Jahre, Fotos 2017
Der aus dem Nichts geschaffene und für den Tourismus konzipierte Ort am Mittelmeer versucht durch eine ungewöhnliche Gestaltung die hohen Fassaden lebendiger wirken zu lassen.
• Solitäres Hochhaus, Hamburg
Als Alternative zu den hohen Dichten wurden auch Hochhäuser als Solitäre gebaut. Sie bieten mehr Freiraum in der Grundrissgestaltung, wie auch einen weiten Blick in die Landschaft. Allerdings bleibt das Problem der Anonymität.
• Hafen-City Baakenhafen, Hamburg, ab 2020, Fotos 2021
Hier findet derzeit ein weiterer Versuch statt, möglichst viele Wohnungen auf engem Raum unterzubringen. Diesmal mit geringeren Geschoßzahlen von sieben bis neun Geschossen, aber dichterer Bebauung. Es wurden Innenhöfe und öffentliche Plätze angelegt. Die Fassaden sind unterschiedlich gestaltet. Es bleibt abzuwarten, ob hier nicht alte Fehler wiederholt werden.
Informelle Siedlung
Der Begriff ist eine Umschreibung für Slums. Dahinter verbergen sich Armut und Elend. Rund eine Milliarde Menschen leben weltweit in Slums. Die romantische Vorstellung einer Urhütte und jede Architekturtheorie erscheinen in diesem Zusammenhang als Farce. Slums sind ein Fakt in unserer Welt. Die Menschen wollen überleben. Gleichwohl ist auch hier erkennbar, wie Menschen versuchen, sich ein kleines oder kleinstes Refugium zu schaffen, was jedoch nicht über die tatsächlichen Zustände hinwegtäuschen darf.
Mit beigefügt ist ein Foto der verwahrlosten "Platte" eines Obdachlosen. Er saß bei einem Kiosk auf dem Boden und bettelte um ein Bier. Nachdem er es bekam, ging er zurück zu seinem höchst unsicheren "Refugium".
Bei aller Kritik, die an Massensiedlungen geübt werden kann, erscheinen diese in Anbetracht von Slums und Obdachlosigkeit doch in einem anderen Licht.
Spezielle Refugien
Die Raumstation ISS ist im Sinne eines Rückzugsortes sicherlich kein Refugium, sondern in einer Umgebung abseits des irdischen Lebensraums einzige Überlebensmöglichkeit. Ich nenne sie dennoch in diesem Zusammenhang als Anregung.
Fazit
Die Facetten, wie wir Menschen heute leben und untergebracht sind, sind außerordentlich vielfältig. All das kann hier nur kurz angerissen werden und auch nur soweit, wie es meinem eigenen Erfahrungshorizont entspricht.
Die gezeigten Fotos wurden weit überwiegend in Deutschland aufgenommen. Die vorgenommene Kategorisierung bezieht sich auf die Größen und Anzahl der Wohnungen in den Gebäuden. Schaut man auf Fotos von anderen Teilen der Welt, so sieht man vergleichbare Größen und Anzahlen.
Viele Menschen scheinen sich in die zuvor geplanten und nun gegebenen Situationen zu fügen. Zugleich ist immer wieder erkennbar, daß im Einzelnen Menschen versuchen, sich einen individuellen Rückzugsort, eben ein Refugium zu schaffen. Die Frage ist, inwieweit Architektur die Möglichkeit dafür schafft bzw. schaffen kann.
Gemäß Daten des Statistischen Bundesamts sind mit Stand von 2016 von annähernd 19 Millionen Wohnhäusern in Deutschland 12,5 Millionen Einfamilienhäuser. Das Ursprungsmoment unserer Seßhaftwerdung vor langer Zeit hat uns offenbar nachhaltig geprägt.
Ich denke, es darf dies behauptet werden: Die Idee der Urhütte ist kulturübergreifend universell.
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https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wohnen/bauen/die-zukunft-der-einfamilienhaeuser-15586647.html
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Zusammenfassung
Eine Architekturtheorie gelangt an ihre Grenzen, wenn viele Menschen in Massensiedlungen oder unter der Armutsgrenze in Slums leben.
Architektur muß die Selbstbestimmung des Menschen und seinen Urwunsch nach einer eigenständigen Gestaltung seines Wohnraumes und seiner Umgebung berücksichtigen.
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